Kategorien: Gesundheit & Wellness

Wie sich eine Depression anfühlen kann, teilt unsere Community-Autorin mit dir. Sie lebt auf dem Land und erzählt dir aus der Rubrik „Dorfgeflüster“ ihre ganz persönliche Geschichte: Vom Aha-Moment über die Tagesklinik im Alltag bis zur Akzeptanz. – Und Sie hat noch eine wichtige Bitte …
„Eine soziale Aktivität in der Woche“, hat die Ärztin gesagt und es schwirrt mir im Kopf. Es ist Donnerstag, 19:15 Uhr. Die Kinder schlafen endlich. Mir brummt der Schädel. Irgendwas in mir möchte einfach nur ins Bett. Der andere Teil, das schlechte Gewissen, zerrt mich doch in den Schuppen, wo ich mein Fahrrad nehme, um zum Feuerwehrdienst zu fahren, der ein Dorf weiter stattfindet.
„Alles fällt mir im Moment unglaublich schwer. Aufstehen, Körperhygiene, Nahrungsaufnahme, soziale Kontakte …“
Alles fällt mir im Moment unglaublich schwer. Aufstehen, Körperhygiene, Nahrungsaufnahme, soziale Kontakte … Es beginnt morgens mit dem Aufstehen. Es ist kalt und dunkel draußen. Die Kids feiern bereits ab 5:30 Uhr eine Party im Kinderzimmer. In mir kreisen die Gedanken: „Warum soll ich aufstehen? Wofür? Ich will liegen bleiben! Ich bin so müde! Ich habe keine Kraft. Ich möchte einfach nur schlafen!“
In mir kreisen die Gedanken: „Warum soll ich aufstehen? Wofür? Ich will liegen bleiben! Ich bin so müde! Ich habe keine Kraft. Ich möchte einfach nur schlafen!“
Um 6:45 Uhr schaffe ich es endlich aufzustehen. Ich ziehe mich schnell an, damit ich die Brotboxen für die Kita noch vorbereiten kann, bevor ich los muss zur Tagesklinik. Mein Mann bringt die Kids vor der Arbeit in die Kita. Das war auch schon so, als ich noch arbeiten konnte.
Das Aha-Erlebnis
Um 7:30 Uhr sitze ich im Auto und fahre in die nächstgrößere Stadt zur Tagesklinik. Wie ich hier gelandet bin? Ehrlich gesagt – keine Ahnung! Irgendwie war das ein schleichender Prozess. Eine Mischung aus Überforderung, Zweifel, Überlastung, Angst und Verlusten aus den vergangenen Jahren. Der „Aha-Moment“ kam mir in Büsum, wo ich im Mai 2023 mit meinen Kindern zur Mutter-Kind-Kur war. Es war eine wirklich schöne und vor allem intensive Zeit. Zeit, in der ich das erste Mal seit der Schwangerschaft meines ersten Kindes Zeit hatte, mich selbst in den Fokus zu setzen und nicht nur für andere zu funktionieren.
„Zeit, in der ich das erste Mal seit der Schwangerschaft meines ersten Kindes Zeit hatte, mich selbst in den Fokus zu setzen und nicht nur für andere zu funktionieren.“
Wir Mütter wurden im Resilienztraining gefragt, wie wir uns gerade fühlen. „Ja, wie fühle ich mich gerade? Ich bin müde, kaputt und irgendwie sehr, sehr leer.“ Dann kam die zweite Frage, die mich irgendwie umhaute: „Wie möchte ich mich (vielleicht) wieder fühlen?“ Ich weiß es noch wie gestern. Ich bekam am ganzen Körper Gänsehaut und die Tränen schossen mir ins Gesicht. Es gab in meinem Leben auf jeden Fall schon schönere Zeiten. Ich musste an die Zeiten am Anfang meiner Zwanziger zurückdenken. Da war ich mutig, stark, kraftvoll, voller Energie, voller Ideen und ich ging selbstbewusst durch mein Leben. Was ist in den vergangenen 10 Jahren passiert?
Heute bin ich Mama von zwei wundervollen, sehr energiegeladenen Kindern, eines davon hochsensibel, die wir bestmöglich bedürfnisorientiert großziehen.
Miniausbildung in der Tagesklinik
Die Zeit in der Tagesklinik ist sehr, sehr intensiv. Sich jeden Tag aufs Neue mit seinen eigenen Problemen und mit den Problemen anderer Patienten auseinander zu setzen, ist wirklich Höchstarbeit. Es finden Gruppengespräche, Gruppencoachings, Einzelgespräche, Psychoedukation, Bewegung- und Ergotherapieeinheiten statt. Jeden Tag muss ich unendlich viele Emotionen erkennen, analysieren, einordnen, zulassen und aushalten.
„Die Zeit in der Tagesklinik ist sehr, sehr intensiv. Jeden Tag muss ich unendlich viele Emotionen erkennen, analysieren, einordnen, zulassen und aushalten. Es fühlt sich an, als müsste ich auf Druck in acht Wochen eine neue Sprache lernen.“
Es fühlt sich an, als müsste ich auf Druck in acht Wochen eine neue Sprache lernen. Die Sprache mit mir, meinem Körper, meinen Gefühlen, Bedürfnissen und Grenzen. Wobei der „Druck“ kein wirklicher Druck ist, sondern eine liebevoll begleitete Miniausbildung.
Ich weiß nicht, wie es bei euch früher war? In meiner Familie wurde nie viel über Gefühle und Bedürfnisse gesprochen. Man hatte zu funktionieren und man solle sich doch gefälligst nicht so anstellen, wenn man Probleme hatte oder traurig war.
Gedanken im Alltag
Ich fahre also völlig durch den Wind um 15:30 Uhr aus der Tagesklinik nach Hause. Manchmal habe ich noch etwas puffer, bevor ich meine Kids in den Empfang nehmen „muss“. Aber es gab auch schon Tage, an denen ich direkt nach der Klinik sofort die Kinder hatte und gar nicht wusste, was ich mit ihnen anstellen sollte, weil mein Maß an Gefühlen einfach schon erreicht war. Das Maß füllten nicht wie sonst die Kinder, sondern ich selbst.
18:45 Uhr: Mein Mann kommt von der Arbeit nach Hause und wir bringen die Kids gemeinsam ins Bett.
19:10 Uhr: Die Kinder liegen in ihren Betten und mein Körper schreit nach dem Bett.
19:30 Uhr: Dienstbeginn in der freiwilligen Feuerwehr. Ich bin eigentlich überhaupt nicht mehr aufnahmefähig, stehe jedoch trotzdem pünktlich in meiner Einsatzschutzkleidung am Gruppenlöschfahrzeug. Eine Gruppe, die zu 75 Prozent aus Männern besteht. Hauptsächlich Handwerker und Landwirte und deutlich älter als ich. Der Ton ist manchmal etwas rauer. Eigentlich kann ich gut damit um, ich bin es gewohnt.
Im Moment bringt mich jedoch jedes kleines Detail zum Weinen. Ich werde gefragt, ob es mir gut geht. Ich nicke: „Bin nur etwas müde.“ Wie soll ich einer Generation, die nie über Gefühle spricht, weil sie es auch nicht von ihren Eltern erfahren hat, erklären, wie es mir geht? „Das sind die Luxusprobleme der heutigen Zeit.“
„Das Gedankenkarussell dreht so laut und so schnell, dass mir übel wird.“
22:30 Uhr: Ich bin vom Übungsdienst zurück, liege im Bett und kann nicht schlafen. Das Gedankenkarussell dreht so laut und so schnell, dass mir übel wird.
Ich weiß nicht, ob wir Leute vom Land anfälliger sind für Depressionen als Stadtmenschen. Man sagt, dass auf dem Land alles entschleunigter ist. Das stimmt auch. Aber man kennt sich, das Gerede kann im Dorf sehr laut sein und man kann sich als junge Mama sehr einsam fühlen.
Als mein erstes Kind geboren wurde, war ich die Erste in meinem Bekannten- und Verwandtenkreis. Die Tage, an denen ich mich einsam gefühlt habe, waren unendlich. Mein Baby hat viel geweint, brauchte sehr viel Zuneigung. Die negativen Stimmen meiner Familie waren so laut und verunsicherten mich komplett. Ich hörte nicht mehr auf meine Mutterinstinkte.
Schlag auf Schlag
Im April 2021 verstab ganz plötzlich eine meiner wichtigsten Bezugspersonen im Krankenhaus an Corona. Allein, niemand konnte bei ihr sein. Es fällt mir heute noch sehr schwer daran zu denken.
Im Dezember 2021 wurde mein Mann überraschend ins Krankenhaus eingeliefert. Diagnose: Herzmuskel- und Herzbeutelentzündung. Ich war auf Schlag alleinerziehend (auf Zeit). Die Reha meines Mannes dauerte bis Ende Februar 2022. Ich war vorher noch nie eine Nacht alleine mit den Kids. Ich hatte unfassbare Angst.
Als ich im März 2022 nach der Elternzeit wieder mit der Arbeit begann, erhielt ich einen Aufgabenbereich, mit dem ich sehr vertraut war, der sich aber vom Arbeitsaufwand exponentiell in die Höhe entwickelte, sodass ich früh merkte, dass die Arbeit mit meiner Stundenanzahl nicht zu schaffen sein würde.
Ebenfalls im März 2022 verstarb meine Mutter unerwartet an einem Schlaganfall. Es war das erste Mal für mich, dass ich dabei war, als lebenserhaltende Geräte abgestellt wurden und ich jemanden in den Tod begleitete.
Der Druck bei meiner Arbeit wurde immer größer und ich wurde monatelang vertröstet. Zusätzlich wurde ich noch von meiner vorgesetzten Person unter Druck gesetzt, dass ich viel aufzuholen habe. Ich würde ja andauernd wegen der Kinder fehlen. Aber wann noch? Mein Stundenkonto zeigte schon mehr als 100 Überstunden von noch nicht mal einem Jahr Arbeit auf. Irgendwo ist ein Fehler im System. Aber, dass der Fehler im System und nicht an mir liegt, habe ich zu dem Zeitpunkt nicht gesehen.
Akzeptanz und Achtsamkeit
Heute, 2 Monate nach der Tagesklinik, geht es mir wieder etwas besser. Es gibt immer noch Tage, an denen mir alles schwer fällt. Ich habe meine Krankheit akzeptiert und lerne damit umzugehen.
Ich kann nur jede:n darum bitten, wenn ihr euch nicht gut fühlt oder Personen in eurem Umfeld kennt, denen es nicht gut geht, redet miteinander! Holt euch Hilfe! 15 Prozent der Personen, die eine Depression haben, überleben sie nicht!
Hier kannst du Unterstützung finden:
Telefonseelsorge: 0800 1110111
Patient:innenservice: 116117
Suizidprävention MANO: https://mano-beratung.de/
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