Knapp 200.000 Einwohner hat der Kreis Herzogtum Lauenburg. Da erschreckt es beinahe, dass sich seit Beginn 2022 bei dem Projekt „Land-Grazien“, des Vereins „Frauen helfen Frauen Sandesneben und Umgebung e. V.“ jede Woche ca. vier bis fünf Neukontakte melden. Heißt: Frauen und Mädchen, die Gewalt erfahren. Die jüngste war bisher 13. Ganz unkonventionell beraten Miriam Peters und ihre Kolleginnen in einem Beratungsmobil, das getarnt als Handwerkerauto durch die schleswig-holsteinische Wildnis fährt.

Sie haben ihr Ziel erreicht, brüllt mich mein Navi an. Irritiert schaue ich mich um. Weit und breit kann ich kein Büro oder eine Schaltzentrale der „Land-Grazien“ erkennen. Auch von dem Verein „Frauen helfen Frauen Sandesneben und Umgebung e. V.“ fehlt jede Spur. Nachdem mich mein Navi einmal quer über die Landstraßen Schleswig-Holsteins, vorbei an unzähligen Rapsfeldern, gescheucht hat, befinde ich mich hier irgendwo im Nirgendwo. Genauer – im Kreis Herzogtum Lauenburg.
Bei der angegebenen Adresse frage ich nach Miriam Peters, meiner Verabredung. Die Frau verschwindet, kommt nach kurzer Zeit wieder und führt mich einen Gang entlang. Mit so viel Geheimniskrämerei auf dem Dorf hatte ich gar nicht gerechnet. Als die Tür aufgeht, steht mir eine toughe Frau gegenüber, mit auffällig kurzem Pony und aufgeweckten braunen Augen. Ihr Büro ist für einen Hinterraum erstaunlich hell. Einladend eingerichtet, mit einer riesigen Schleswig-Holstein-Karte an der Wand. Einem Schreibtisch und einem Tresen, an den wir uns setzen. Wir tauchen direkt ein ins Thema: Miriam Peters, 31 Jahre, Sozialarbeiterin – kümmert sich um Frauen in Not. Krass. Und jetzt bitte noch mal etwas ausführlicher zum Mitschreiben?!

Jede Frau sollte sich wie eine Göttin fühlen

Den Verein „Frauen helfen Frauen Sandesneben und Umgebung e. V.“ gründete Miriam im Februar 2020 mit neun weiteren Frauen, bei Schnittchen und Kaltgetränk. Sie musste während ihrer Arbeit als Sozialarbeiterin im Autonomen Frauenhaus Lübeck immer wieder Frauen aus dem Herzogtum wegschicken. Nicht wegen Platzmangels, sondern weil der Kreis nicht zuständig war. Auf dem Land hakt es oft am Nahverkehr, und auch daran, dass die nächste Beratungsstelle zu weit entfernt ist, oder die Wartelisten für einen Termin endlos. Gegen diesen offensichtlichen Missstand auf dem Land wollte Miriam etwas tun. Daraus entstand das Projekt „Land-Grazien“. „Grazien“ aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet Anmut/Liebreiz. „Es sollte sich jede Frau wie eine Göttin fühlen, das wäre mein Wunsch“, erklärt Miriam. Und noch was, sie sind absolut parteilich! Sie sind ganz klar IMMER für die Frau!

Unter Beobachtung

Es gab für kurze Zeit in Sandesneben eine Anlaufstelle für Frauen. Allerdings wurde das Büro kaum genutzt, weil sich die meisten Frauen wegen der neugierigen Nachbar:innen und Zaungäste nicht rein trauten. Zu groß war die Gefahr, jemand könnte sie verraten. Auf dem Land fehlt die Anonymität, die man aus der Stadt kennt. Deshalb wurden die Treffen an meist unverfängliche Orte verlagert: auf Spielplätze, Supermarktparkplätze oder in den Wald auf einen Spaziergang.

Land-Grazien on Tour

Um nicht ständig von den Witterungsverhältnissen abhängig zu sein, kam die Idee eines Beratungsmobils. Die Beckenbauerstiftung sponserte den Bulli mit 18.000 Euro. Stolz präsentiert Miriam das rollende Mobil. Von außen ist nicht erkennbar, dass sich hinter dem dunklen Bulli mit Handwerkeraufschrift das Land-Grazien-Mobil verbirgt. Drinnen versteckt sich eine gemütliche Sitzecke, mit Bettfunktion für den Notfall. Eine Campingtoilette, eine extra Heizung und ein Kühlschrank für Snacks und Getränke sind ebenfalls da. Die Frauen sollen eine gemütliche Atmosphäre vorfinden, das ist Miriam wichtig. Es ist die bundesweit erste mobile Beratungsstelle für Frauen, die inkognito unterwegs ist.

Land-Grazien-Mobil

Fotos: Esther Hell (3)

Gewalt kommt in den „besten“ Familien vor

Angesprochen sind Frauen und Kinder, die zuhause physische oder psychische Gewalt erleben oder vor einer Eskalation Angst haben. Oft haben die Frauen bereits einen jahrlangen Leidensweg hinter sich, mit Erniedrigungen, ständiger Kontrolle und kompletter Unmündigkeit. Mobbing bzw. Cybermobbing nimmt vor allem bei den jüngeren Frauen und Mädchen immer mehr zu. Ein Fall, von dem Miriam berichtet hat, ist mir ganz besonders im Kopf geblieben: Eine Frau, deren Zuhause durch die moderne Smarthome-Technik zum Hochsicherheitstrakt und ihrem eigenen Gefängnis wurde. Ihr Mann kontrollierte nicht nur per Fingerprint die Tür, sondern nutzte auch die Abhörtechnik von Alexa & Co. und überwachte sie per App auf Schritt und Tritt. Gemeinsam mit den Land-Grazien plante sie ihre Flucht und konnte so ihrem „Kontrolletti“ entkommen. So einfach wie es klingt, ist es oft gar nicht, vor allem wenn Kinder mit im Spiel sind. Da muss oft auch die Polizei anrücken.

Gefährliche Beziehung

Gefährliche Beziehungen beginnen meist mit einer rosaroten Brille, gefolgt vom schnellen Zusammenziehen, einem gemeinsamen Konto und der Hochzeit. Plötzlich wird der Ton rauer, die Männer wollen IHR SPIELZEUG, ganz für sich allein und oftmals kommt es zur Eskalation. Die Situation verschärft sich meist noch einmal, wenn die Frau schwanger wird, bzw. das Baby/die Kinder auf der Welt sind. Familie und Freunde werden systematisch schlecht gemacht, bis hin zum Kontaktabbruch. Die Frauen werden klein gehalten, ihnen wird immer wieder suggeriert, dass sie ihr Leben nicht allein hinbekommen, finanziell abhängig sind und im Zweifel ihnen die Kinder weggenommen werden. Corona hat die Situation leider noch verschärft. Durch die permanente Homeofficesituation des Mannes, ist die Frau rund um die Uhr der Kontrolle ausgesetzt. Oft erreicht die Land-Grazien auch nur eine kurze SMS: „Treffen, morgen 15 Uhr am Waldrand.“

Frauen halten zusammen

Miriam kann im Notfall auf ein gut funktionierendes Netzwerk zurückgreifen. Sie erzählt von einer Frau, deren Mann das Konto geplündert und alles Bargeld mitgenommen hat. Mitte des Monats hatte sie kein Geld mehr, um die Brotdosen der Kinder zu füllen. Zwei SMS an die Landfrauen der Umgebung und die Mutter hatte nicht nur genug Essen für ihre vier Kinder, sondern auch Barspenden, um sich das Nötigste selbst kaufen zu können. „Frauen halten eben zusammen, wenn es hart auf hart kommt und das liegt vor allem auch am Landleben“, erklärt Miriam.

Hilfe für die Opfer

Sich von ihrem Mann zu trennen, ist oft die erste eigene Entscheidung, die die Frau in ihrem Leben seit langer Zeit wieder trifft. Plötzlich muss sie selbst Verantwortung übernehmen und trifft Entscheidungen, die ihr komplettes Leben beeinflussen. Die Land-Grazien unterstützen sie zwar bei Behördengängen, bei Terminen mit den Anwälten, bei der Kontoeröffnung usw., aber sie geben keine Entscheidungen vor. Diese Umstellung ist für viele zu Beginn ganz schön anstrengend. Aber im Laufe des Prozesses kann man bei vielen Frauen eine Wandlung feststellen, sie werden immer selbstbewusster und nehmen ihr Leben selbstbestimmt in die Hand. Und das ist auch das Ziel.

Nachahmerinnen bundesweit gesucht

Die Land-Grazien bekommen unheimlich viel positives Feedback. Und Aktion Mensch hat mit einer Anstupsförderung von 300.000 Euro auf fünf Jahre das Projekt gesichert. Allerdings ist es Miriam ein Anliegen, das Projekt bzw. die Idee mit dem mobilen Beratungsmobil weiter zu tragen, denn das Problem mit den fehlenden Beratungsstellen auf dem Land existiert bundesweit. Sie hat das Konzept bisher schon ein paar Mal weitergeschickt, selbst bis nach Süddeutschland. Miriam kommt selbst aus dem Herzogtum, ist da verwurzelt und hat die Erfahrung gemacht, dass die Frauen sich ihr gegenüber eher öffnen, als einer Fremden aus der Stadt. Sie sagt: „Oftmals fällt es den Einheimischen leichter, zu den Alteingesessenen einen Draht aufzubauen und akzeptiert zu werden.“ Und man muss nicht zwingend eine ausgebildete Sozialpädagogin sein, es reicht auch eine pädagogische Ausbildung, um in diesem Bereich zu arbeiten.

Wer Hilfe benötigt oder mehr über das Projekt erfahren möchte, wird hier fündig:
https://www.fhf-sandesneben.de/de/

Text: Esther Hell

Hier kannst du den gesamten Beitrag noch einmal auf Plattdeutsch anhören:

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