Sarah und ihre Familie sind gerade dabei, in ihrer Potsdamer Stadtwohnung die Kartons zu packen und ganz in ihr Haus auf dem Land zu ziehen. In ihrer neuesten Kolumne fragt sich Sarah, ob ihre Kinder im noch nicht fertig renovierten Haus glücklich sein werden. Und sie erinnert sie sich an ihre eigene Kindheit.

Seitdem wir den Entschluss gefasst haben, in unser Haus aufs Land zu ziehen und unsere wunderschöne Wohnung aufzugeben, habe ich immer mal wieder Zweifel an unserem ganzen Vorhaben. Was, wenn die Kinder sich dort nicht wohlfühlen? Was, wenn sie ihr Zimmer mit der kaputten Tapete an der Fußbodenleiste, das Linoleum und die gesprungenen Fliesen im Bad stören. Was, wenn sie Angst vor den unrenovierten Zimmern im Haus haben und was, wenn der muffige Geruch dieser Zimmer ihnen als ihr „Zuhause-Duft“ in Erinnerung bleibt?! Was, wenn sie unsere Provisorien so blöd finden, dass sie sich nie an dem fertigen Haus erfreuen können? Wird es sie stören, dass wir keinen Platz für einen Weihnachtsbaum in unserem Wohn-Ess-Küchenbereich haben? Ist es verantwortungslos, unsere Kinder in dieser Umgebung groß werden zu lassen?

Vor ein paar Tagen erzählte uns meine Mama dann von einer Geburtstagsfeier, auf der sie war. Einer der Gäste trug dem Geburtstagskind das Lied „Viertel vor sieben“ von Reinhard Mey auf der Gitarre vor. Passender Weise war es der Sohn des Geburtstagskinds und rührte mit seinem Gesang nicht nur seine eigene Mutter zu Tränen

Manchmal wünscht ich es wär noch mal Viertel vor sieben. Und ich wünschte ich käme nach Haus … (Reinhard Mey)

Eisblumen am Fenster

Als ich selbst das Lied hörte, waren die Erinnerungen aus meiner Kindheit alle wieder da: Erst nur einzelne Bilder, wie der schwarze Mülleimer mit dem schönen Rosenmotiv, der in der Ecke der Küche stand. Dann Dinge, wie der Klang und das Gefühl der gesprungenen Fliese im Bad, die jedes Mal unter meinen nackten Füßen knirschte, wenn ich ins Badezimmer ging. Und ich erinnerte mich daran, wie es sich anfühlte, mit meinen kleinen Fingern die Tapete unter dem Schlafzimmerfenster ein Stückchen weiter abzureißen und das weiche Styropor darunter freizulegen. Ich erinnerte mich auch wieder an das kratzige Gefühl der Wolldecke, unter die wir uns kuschelten, während meine Mama in den Keller ging, um zu heizen. Im Winter betrachteten wir die schönen Eisblumen am Fenster, die nach und nach verschwanden, je wärmer es in der Stube wurde.

Ein Gefühl von Wärme

Langsam dämmerte mir, dass genau dieses Lied mir meine Sorgen nehmen würde. Noch heute finde ich, dass ich in der wohl schönsten Umgebung groß geworden bin. All die Erinnerungen an kaputte Fliesen, kalte Winter und Styropor unter der Tapete sind durch und durch positiv und locken ein Gefühl von Wärme und Vertrautheit in mir hervor. Denn diese Umgebung, in der ich groß geworden bin, war und ist immer voll von Liebe, Familie und Freiheit gewesen.

Es juckte mich nicht, ob die Möbel schön, neu oder bunt waren. Ich liebte unsere Wohnung, sie war gemütlich und hatte alles zu bieten, was wir brauchten: Einen Vermieter, der unter uns wohnte und der für mich war wie ein dritter Opa, Fenster, aus denen ich Vögel beobachten und dem Nachbarn winken konnte, einen muffigen Dachboden, auf dem wir Abendteuer erlebten und einen feuchten Keller, in dem Eidechsen wohnten.

Viertel vor sieben_2

Fotos: Sarah Güttler (2)

Gemeinsame Erinnerungen schaffen

Bei Regen fuhr meine Mama mit uns in die Bibliothek und lümmelte sich danach mit uns und den ausgeliehenen Büchern auf die Couch, der Regen prasselte gegen die Scheiben, wir guckten uns Bilder an und lauschten den Geschichten. Bei Schnee fuhren unsere Eltern mit uns in unseren kleinen Schneeanzügen den Berg im Park herunter, bis unsere Gesichter glühten und wir froren. Zuhause kuschelten wir uns in warme Decken und aßen Bratäpfel.

Am Wochenende ging es mit unseren Eltern auf die Baustelle, wo unser Papa uns einen riesigen Sandberg zum Spielen vors Haus geschüttet hatte. Vor das Haus, das meine Eltern, während wir im Sand Abenteuer erlebten, scheinbar ganz nebenbei ausbauten.

Und plötzlich wird mir klar, dass es unseren Kindern egal sein wird, dass unser Haus nicht perfekt, ja, es eine Baustelle ist. Solange wir Zeit haben und gemeinsame Erinnerungen mit ihnen schaffen, wird es für sie ein Abenteuer sein, auf einer Baustelle groß zu werden.

Höre dir hier Sarahs Kolumne auf Plattdeutsch an:

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