Kategorien: Politik & Gesellschaft
Seit längerer Zeit spitzt sich die Lage der Tafeln in ganz Deutschland zu: Die Neuanmeldungen steigen, aber die Spenden gehen zurück. Ob die Situation der Tafeln in Schleswig-Holstein und Hamburg ähnlich ist und was man dagegen tun kann, darüber haben wir im Interview mit Frank Hildebrandt gesprochen, dem Vorstandsvorsitzenden der Tafel Schleswig-Holstein/Hamburg.
Herr Hildebrandt, schon länger häufen sich Berichte, nach denen viele Tafeln deutschlandweit immer mehr Kunden vermelden, gleichzeitig aber die Spenden sinken und bedürftige Personen weggeschickt werden müssen. Ist die Situation in Hamburg und Schleswig-Holstein genauso?
Ja, auch bei uns ist die Entwicklung kritisch. Wir haben mit der Problematik schon seit Dezember 2021 zu kämpfen, als die Energiepreise anfingen zu steigen.
Was fehlt am meisten?
Alles! Das Problem ist, dass die Lebensmittelspenden des Handels immer weiter zurückgehen. Das ist ein „Nachteil“ der zunehmenden Digitalisierung – es kann viel bedarfsorientierter produziert werden, und damit bleibt für die Tafeln und ihre Kunden leider weniger „übrig“. Natürlich ist die bedarfsorientierte Produktion vernünftig, denn wir haben ja früher immer gesagt, dass dieser wahnsinnige Lebensmittelüberschuss nicht nötig ist. Da war häufig so ein Überfluss vorhanden, den entweder wir von den Tafeln bekommen haben oder er landete bedauerlicherweise direkt in der Mülltonne. Zu dieser Zeit sind wir davon ausgegangen – und das war bundesweit so zu sehen – dass 10 Prozent der Bedürftigen die Leistungen irgendeiner Tafel in Anspruch genommen haben.
Das hat sich aber seit einiger Zeit geändert. Einmal gibt es weniger Lebensmittel. Und zum anderen haben wir es in den vergangenen Jahren häufiger mit Hamsterkäufen zu tun gehabt, bei denen die Billigartikel aufgekauft wurden und man plötzlich zum Beispiel kein günstiges Mehl mehr bekam. Das hat manch einen, der sonst gut kalkuliert hat und mit seinem Einkommen über die Runden gekommen ist, vor Herausforderungen gestellt.
Hinzu kommt, dass die Konzerne dazu übergehen, sogenannte Restetüten zu verkaufen. Was im Sinne von Lebensmittelretten auch gut ist, aber man muss einfach sehen, dass diese Restetüten nicht nur von Bedürftigen gekauft werden, sondern von jedem, der einfach preisbewusst ist. Und die Lebensmittel fehlen dann bei uns.
Also auf der einen Seite viel weniger Lebensmittel, die Ihnen zur Verfügung gestellt werden und gleichzeitig viel mehr bedürftige Personen?
Genau, es sind seit längerer Zeit zu viele Dinge, die gleichzeitig zusammenkommen. In Kombination mit den gestiegenen Energiepreisen ist das also eine Situation, in der mehrere für die Tafeln ungünstige Faktoren kollidieren.
Können überhaupt noch neue Kund:innen aufgenommen werden?
Das ist unterschiedlich. Man muss immer gucken, wie die einzelnen Tafeln aufgestellt sind. Also wie viele Kunden haben sie sowieso schon, wie viele Geschäfte liegen drum herum, von denen noch Waren kommen? Ich würde sagen, dass schon fast die Hälfte einen Aufnahmestopp hat.
Aber es gibt auch noch andere Reaktionsmöglichkeiten: Normalerweise kommen die Tafelkunden einmal pro Woche. Manche Tafeln strukturieren jetzt um und die einzelnen Kunden dürfen nur noch alle zwei Wochen kommen. Denn wenn jeder nur noch ein paar Scheiben Brot und einen Apfel erhält, weil zu wenig da ist, dann bricht das System zusammen.
Was machen die Menschen, die in der einen Woche leer ausgehen?
Das weiß man natürlich nicht, aber sie müssen dann irgendwie über die Runden kommen. Wir haben das ja 2020 schon erlebt, als die Corona-Pandemie ausgebrochen ist. Da hatten von den 57 Tafeln in Schleswig-Holstein 42 geschlossen. Einfach, weil sie nicht wussten, wie man mit der Situation umgehen sollte. Dazu muss man wissen, dass der klassische Tafelhelfer 65 Jahre alt und aufwärts ist – also von Anfang an altersmäßig in der Risikogruppe war. Viele Helfer sind dann erstmal zuhause geblieben, um sich nicht anzustecken.
Wie ist die Stimmung bei den Verteilungen?
Sowohl die Kunden als auch die Helfer sind ein normaler Querschnitt durch die Gesellschaft und natürlich gibt es welche, die sind anspruchsvoll oder drängeln. Dann gibt es welche, die sind so dankbar, dass es uns schon peinlich ist, weil wir uns untereinander auf Augenhöhe begegnen möchten. Insgesamt kann man sagen, dass unsere Kunden die Situation natürlich registrieren und bemerken, dass es weniger gibt, aber genau deshalb sind sie umso dankbarer, dass wir weiterhin Waren für sie haben und beispielsweise einen Aufnahmestopp für Neukunden verhängen, wenn es ansonsten nicht ausreicht. Außerdem muss man wissen, dass viele Tafelkunden schon morgens um 7 Uhr da sind, auch wenn die Tafel erst um 10 Uhr öffnet. Der Tafelbesuch ist für viele ein Highlight. Denn er kostet nichts, man kommt raus, kommt mit Leuten zusammen, kann schnacken und sich austauschen.
Werden die Tafeln in irgendeiner Weise durch politische Maßnahmen unterstützt?
Das Land Schleswig-Holstein hat für die Tafeln in 2024 1 Million € in den Haushalt gestellt – die Hälft für investive Maßnahmen und die andere Hälfte für stukturelle Maßnahmen. Projektzeitraum ist bis Ende 2028, aber in den Folgejahren, also jetzt ab 2025 ist die Finanzierung noch nicht gesichert, da natürlich auch hier die allgemeine Haushaltslage zu beachten ist.
Lebensmittel dürfen wir von den Geldern allerdings nicht kaufen. Wir sind alle Mitglieder im Bundesverband der Tafeln und der hat seine Tafelgrundsätze. Dort steht drin: „Wir sammeln!“ Kaufen wäre außerdem sehr ungeschickt, denn wir bekommen unsere Lebensmittelspenden überwiegend vom Handel und wenn der sieht, dass wir anfangen zu kaufen, dann geht er davon aus, dass wir keine Spenden mehr benötigen. Stattdessen geben sie die Waren dann lieber an Food-Sharing-Projekte oder To Good to Go oder Resteritter o. ä., von denen sie vermutlich zum Teil etwas Geld erhalten. Das ist den Händlern dann logischerweise lieber als alles zu spenden.
Es ist allerdings festzustellen, dass die bundesweite Tafellandschaft beim Thema Zukauf äußerst zwiespältig aufgestellt ist; trotz des nach wie vor bestehenden Zukaufsverbots setzen sich viele Tafeln, die sich das „leisten“ können, darüber hinweg. Das kann aber längst nicht jede Tafel tun, einfach, weil sie über kein hohes Spendenaufkommen verfügt. Und was machen diese Tafeln, wenn sich im Zuge einer einfachen Verallgemeinerung im Handel die Ansicht durchsetzt: Wenn DIE Tafeln Lebensmittel kaufen, brauchen wir nicht mehr zu spenden? Dann könne diese, meist ja kleinerer Tafel nur noch schliessen – mit der Folge, dass ihre bisherigen Kunden dann irgendwie versuchen werden, bei einer noch arbeitenden Nachbartafel unterzukommen. Und damit dort die Probleme vergrößern. Das kann doch auch keine Lösung sein.
Inzwischen arbeitet der Bundesvebrand intensiv, auch unter Einbeziehung von Kuratorium (darin sitzen auch Vertreter der Lebenmittelhändler) und wissenschaftlichem Beirat, an einer zukünftigen Haltung zu dieser Frage. Es braucht wahrscheinlich nur eine neue Formulierung der entsprechenden Passage in den Tafelgrundsätzen, denn wenn man sich an das Zukaufsverbot konsequent halten wollte, müsste man ehrlicherweise Geldspenden für den Zukauf von Lebensmitteln für die Tafelkunden zurückweisen.
Wie kann man die Tafeln am besten unterstützen?
Mit Lebensmittelspenden! Auch als Privatperson kann man Lebensmittel kaufen und diese bei den Tafeln abgeben – nur das MHD darf nicht abgelaufen sein.
Gibt es eigentlich Unterschiede zwischen Tafeln in der Stadt und auf dem Land?
Es ist insgesamt wahnsinnig schwierig immer von DER Tafel zu sprechen. In Deutschland gibt es inzwischen 975 Tafeln. Wenn man 50 findet, die man 1 zu 1 von der Arbeitsweise miteinander vergleichen kann, dann ist das viel. Genauso gibt es große Unterschiede zwischen Stadt und Land. Wir in Kiel haben acht Ausgabestellen, das heißt also, dass an jedem Werktag irgendeine geöffnet ist. Dadurch können wir viel mehr Lebensmittel noch einsetzen als zum Beispiel eine Tafel auf dem Dorf, die nur einmal in der Woche geöffnet hat. Man muss immer sehen: Wir kriegen die Sachen, die der Handel nicht mehr verkaufen kann. Die haben also keine allzu große Lebenserwartung mehr.
Ich sprach ja außerdem zu Beginn schon von den 10 Prozent der Bedürftigen, die überhaupt nur zu den Tafeln gehen. Warum kommen die anderen nicht? Das hat den einen Grund: Die Nachbarn sollen das nicht sehen! Und das ist auf dem Dorf wahrscheinlich noch viel ausgeprägter. In der Stadt ist man anonymer und man muss nicht zur Ausgabestelle direkt vor der Haustür gehen.
Was macht Ihnen am meisten Spaß an ihrer ehrenamtlichen Arbeit?
Der Kontakt mit den Menschen! Man bekommt sehr viel zurück! Es gibt einige, die sagen, wir würden dem Staat die Aufgabe wegnehmen, dafür zu sorgen, dass jeder ausreichend Geld hat, damit er leben kann. Darauf antworte ich immer: Ja, mag sein – ist doch aber nicht schlimm! Früher gab es die Großfamilie. Und die Armut, die es damals auch schon gab, wurde in dieser irgendwie aufgefangen. Jetzt haben wir keine Großfamilien mehr, nun macht die Gesellschaft das übers Ehrenamt – wo ist das Problem? Denn egal, ob die Menschen ein Grundeinkommen oder ein Bürgergeld oder ähnliches erhalten – es gibt immer Menschen, die damit nicht klarkommen. Sie haben Unterhalt zu zahlen oder Ratenverträge usw. Es wird immer Menschen geben, die zu uns kommen.
Das ist auch ein Punkt: Was heißt bedürftig? Die Tafeln dürfen nach der Abgabeordnung nur an Bedürftige abgeben. Wo man die Bedürftigkeitsgrenze ansetzt, richtet sich nach den örtlichen Gegebenheiten. Wie viele Reste erhält die Tafel, wie viele Kunden hat sie? Und dann kann man die Grenze setzen. Wir haben sie in Kiel bei 1074 € angesetzt (allg. Armutsgrenze 2019). Aber wenn wir sowieso nur wenig Ware haben und ganz viele Kunden „befürchten“, dann müssen wir den Betrag etwas niedriger setzen und haben dann weniger Kunden dadurch. Das ist eine Steuerungsmöglichkeit, von der wir in naher Zukunft vermutlich vermehrt Gebrauch machen müssen.
Heißt das, dass man als Kund:in theoretisch auch wieder aus der Tafel ausgeschlossen werden könnte?
Nein, das machen wir nicht. Wir müssen uns von unseren neuen Kunden einen Bedürftigkeitsnachweis zeigen lassen. Diesen muss man zu Beginn eines Kalenderjahres erneuern, denn nicht alle sind ewig bedürftig. Viele Kunden sind von heute auf morgen weg. Dann haben sie entweder einen Job gefunden, sind umgezogen, haben geheiratet … Bei den Tafeln scheidet aber niemand aus – er oder sie kommt einfach nicht (mehr). Da sich derjenige aber nicht abmelden muss, wissen wir auch nicht, ob er auf Dauer nicht mehr kommt oder z. B. für ein paar Wochen im Krankenhaus liegt o. ä. Insofern können also auch keine Nachrücker aufgenommen werden. Wenn ein Aufnahmestopp besteht, kann der nur aufgehoben werden, wenn (wieder) genügend Warenspenden im Verhältnis zur (sowohl vorhandenen als auch prognostizierten) Kundenzahl zur Verteilung zur Verfügung stehen.
Zur Person
Seit dem Jahr 2007 engagiert sich Frank Hildebrandt ehrenamtlich bei der Tafel. Auf die Teilnahme an der wöchentlichen Ausgabe in Flintbek folgten schnell auch Tätigkeiten in der Kieler Verwaltung und die Wahl in den Vorstand im Jahr 2010. Kurze Zeit später wurde er zum Stellvertreter des Ländervertreters der Tafeln Schleswig-Holstein und Hamburg gewählt, bis er schließlich dessen Nachfolge übernahm. Im Jahr 2015 wurde der Landesverband gegründet, dem Frank Hildebrandt seitdem als Vorstandsvorsitzender vorsteht.
Du möchtest die Tafel unterstützen?
Alle Tafeln, auch die in Schleswig-Holstein und Hamburg, sind auf Spenden angewiesen. Denn ohne Lebensmittel-, Sach- und Geldspenden wäre die Arbeit, die die einzelnen Tafeln leisten, nicht möglich. Wenn du die Tafeln unterstützen möchtest, findest du hier alle Hinweise zum Spenden.
Hier gibt’s den Beitrag noch einmal auf Platt für die Ohren:
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