Kategorien: Politik & Gesellschaft
Großstädterin Lisa war am Europawahl-Wochenende in Thüringen. Schnell wurde ihr klar: die politische Meinung, die sie aus ihrer Großstadt-Bubble kennt, ist dort auf dem Dorf nicht die Normalität. Ihre Gedanken dazu und welche Schlüsse sie daraus für die Zukunft zieht, hat sie für Klönstedt aufgeschrieben.
Es war ein Schock, auch wenn man damit rechnen musste: Die Wahlergebnisse der diesjährigen Europawahl. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in unseren Nachbarländern gab es einen gewaltigen Rechtsruck. Die Umfragewerte der rechtsextremen Partei AfD waren hierzulande schon vor den Wahlen konstant hoch, wirklich überraschen durfte uns das Ergebnis also nicht – doch ein Funken Hoffnung blieb, dass die anderen Stimmen vielleicht doch stärker wären. Leider vergebens.
Für mich unverständlich, wie man diese Partei wählen, ihre Werte vertreten oder überhaupt in irgendeiner Form mit ihnen sympathisieren kann. Ich würde es so gerne verstehen. So gern die Gründe kennen und was die Leute sich von dieser Partei versprechen. Aber ich kenne nicht einmal Leute, die eben diese Partei wählen. In meiner Familie, in meinem Freundes- und Bekanntenkreis sind wir nicht alle einer politischen Meinung, aber auf demokratische Werte können wir uns alle einigen. Hier brauche ich mit niemanden darüber diskutieren, warum besagte Partei genau KEINE Alternative für uns ist. Am Wahlwochenende habe ich einmal mehr eine andere Erfahrung gemacht.
Ich habe das Wochenende aus privaten Gründen in Thüringen verbracht. Hier wurde ich sehr schnell mit der bitteren Realität konfrontiert. Dass die rechtsextreme AfD in Thüringen sehr stark ist, wusste ich bereits. Doch bei einem meiner ersten Besuche in Thüringen zur Bundestagswahl 2017 war ich noch sehr geschockt. Ich stellte damals tief erschrocken fest, wie viele AfD-Plakate in den Dörfern hingen. An jedem Laternen-Mast, vor jedem Haus. „Bei uns würde davon nichts mehr hängen, wer toleriert denn so ein Plakat vor der eigenen Haustür?“, fragte ich fassungslos – konnte mir die Antwort aber selber geben. Es gibt hier offenbar genug Anhänger:innen. Damals wurde mir erst bewusst, wie sehr ich in meiner Großstadt-Bubble gelebt hatte und wie es tatsächlich außerhalb von ihr aussieht. Damals vor knapp sieben Jahren, dieselbe Fassungslosigkeit wie nach diesen Europawahl-Ergebnissen.
Ich bin erschüttert
„In allen Dörfern um uns herum wird AfD gewählt“, erzählt mir am Wochenende ein Thüringer Freund. In Thüringen sind an dem Europawahlwochenende auch Kommunalwahlen. „Ich sitze mit Kollegen und Kolleginnen bei der Arbeit, die mir offen erzählen, dass sie die wählen“, sagt er weiter und schüttelt den Kopf. „Ich diskutiere mit ihnen, ich hab’ ihnen das Wahlprogramm vorgelesen. Ich sage ihnen, dass vom Verfassungsschutz beobachtete Nazis in der Partei sind. Lese deren Aussagen vor. Es bringt nichts. Das sei egal, Hauptsache es mache mal einer was, so das Gegenargument.“ Ich bin erschüttert. Mir ist das bei meiner Arbeit noch nie vorgekommen. Die anderen Thüringer Freunde wissen noch mehr Geschichten zu erzählen. Von einem, der bei der Freiwilligen Feuerwehr auf Menschenfang gegangen ist. Bewusst auf Jugendliche zugegangen, um sie mit seinem rechten Gedankengut zu beeinflussen (er wurde zum Glück rausgeworfen). Von einem, den er überzeugt hat und der jetzt seinerseits versucht, auf Dorffesten oder privaten Feiern, seine rechten Ansichten zu verbreiten, zu provozieren und zu spalten. Von Familienangehörigen, die sich „über die ganzen Ausländer“ beschweren, über „Steuerverschwendung für die Migranten“. Einer der Freunde ist Lehrer in Erfurt und erzählt, wie die Schülerinnen und Schüler in seiner achten Klasse ernsthaft darüber reden, dass eine Familie aus Mann und Frau und Kindern besteht und, dass Gendern was Schlechtes für uns ist.
Die Freunde erzählen, wie sie versuchen, gegenzuhalten. Wie sie diskutieren, wie sie Argumente aufbringen und wie sie langsam müde davon werden. An einem Abend an diesem Wochenende bekomme ich in einer Runde selbst solche Aussagen mit. Man gucke sich doch die ganzen Ausländer an und wieviel sie hier bekämen. Und noch viel mehr, was ich aber nicht wiedergeben möchte, um diese Narrative nicht zu reproduzieren. Mein Puls rast in die Höhe, gleichzeitig bin ich so erschrocken, dass ich zunächst nicht weiß, was ich sagen soll. Während ich mir noch die Worte zurecht lege, reagiert zum Glück mein Freund. Mit stichhaltigen Argumenten und entwaffnendem Hinterfragen, wird das Gegenüber schnell leise und das Gespräch wandelt sich langsam in eine andere Richtung. Das wird vielleicht die Meinung dieses Menschen nicht ändern aber trotzdem denke ich: „Das!“ Mit Leuten ins Gespräch kommen, ihre Ängste und Sorgen und auch ihre Wut ernst nehmen. Sie nicht auslachen und als „dumme Nazis“ abstempeln, denn das sind sie meistens gar nicht. Zu verstehen, warum so viele Menschen aktuell eine rechtsextreme Partei wählen, heißt verstehen, was im Leben dieser Leute abgeht. Was treibt sie ausgerechnet in die Arme von Nazis?
„Warum glaubst du, dass diese rechte Partei hier so stark ist?“ frage ich einen der Thüringer Freunde. „Puh“, sagt er, „ich glaube, es sind so viele Gründe. Dass man mit der aktuellen Politik unzufrieden ist, ist einer. Ich weiß, dass viele aus Protest wählen. Aber die Leute sind auch allgemein krass unzufrieden. Noch immer verdienen wir hier im Osten weniger als im Westen zum Beispiel. Gleichzeitig verändert sich unser Leben hier auf dem Land gerade ziemlich. Für euch in der Großstadt ist das seit Jahrzehnten normal, dass ihr mit verschiedenen Kulturen zusammenlebt, hier aber überhaupt nicht. Dann entstehen hier Geflüchteten-Unterkünfte, Geflüchtete machen in der Stadt Geschäfte und Cafés auf, das Kleinstadt-Bild ist auf einmal ein anderes. Das kennen die Menschen hier nicht. Das müssen sie vielleicht erst lernen. Und das Gefühl bei den meisten Leuten ist eben leider nicht, Begeisterung für Neues, sondern eher Unbehagen, was da kommt.“
Die Einstellungen vieler Leute hier, so sagt er, habe auch was mit der Vergangenheit zu tun. Mit dem Leben in der ehemaligen DDR und mit dem Lebenswandel durch die Wende. Vor allem, wie vieles damals behandelt wurde. Menschen der älteren Generation, die die Wende aktiv mitbekommen haben, fühlen sich teilweise bis heute ungerecht behandelt und verarscht.
Das rechtfertigt nichts – aber erklärt vieles.
Am Abend des Wahlsonntags lese ich einen Post von Monchi Fromm, dem Sänger der Punkband Feine Sahne Fischfilet. Darin schreibt er, dass er es leid sei, wie nach der Wahl alle so erschrocken von den Ergebnissen sind. „Nur Leute, die nicht ansatzweise aus ihren „Wohlfühl-Kiezen“ und „Insta-Bubbles“ rauskämen, könnten ernsthaft überrascht über die Wahlergebnisse sein“, meint er. Denn wer mit Leuten aus den ländlichen Gegenden ins Gespräch käme, könne eigentlich nur staunen, dass es nicht noch erbärmlicher geworden ist.
Nach diesem Wochenende fühle ich jede einzelne Zeile. Denn er hat leider recht. Unsere Botschaften, die Meinungen meiner Bubble erreicht genau die nicht, die es erreichen müsste. Wir können noch so oft rufen „Wir sind mehr!“, wenn wir die, die es nicht hören, nicht mitnehmen, weiß ich nicht, ob wir wirklich noch lange mehr sind.
Und das ist übrigens nicht nur ein Problem im Osten Deutschlands. Unzufriedene und politikverdrossene Menschen gibt es überall. In der Stadt, wie auf dem Land – aber hier eben noch mehr. In all den kleinen Dörfern, fernab jeglicher Metropolen, mit wenig Einfluss und Inspiration von außen. In denen Vielfältigkeit nicht gelebt und somit auch nur schwer toleriert wird.
Ich fühle mich angesichts dieser Gespräche hilflos und ohnmächtig. Ich frage mich nicht erst seit Sonntag, was man dagegen tun kann. Was wir dagegen tun können.
Denn in der eigenen Bubble nützt es nichts, Anti-Nazi-Memes zu posten oder über Rechtsextreme aufzuklären, wenn eh alle der gleichen Meinung sind.
Wie erreicht man die, die es nicht sind?
Schon aus zwei kurzen Gesprächen am Wochenende habe ich gemerkt, wie viel Kraft, Vernunft, Geduld und auch Fachwissen es bedeutet, mit Leuten zu diskutieren, die eine Tendenz zu rechten Ansichten haben. Ruhig zu bleiben, die richtigen Fragen zu stellen, Argumente zu finden. Und nicht dem ersten Impuls nachzugehen und sie zu beschimpfen oder ihnen den Vogel zu zeigen (was angesichts mancher Aussagen noch eine harmlose Reaktion wäre).
Man kann nicht mit jeder Person diskutieren und wiederum manche Personen haben auch nicht die Kraft oder das nötige Wissen für derlei Diskussionen, um gegenzuhalten. Aber es gibt welche, die können das und die machen das auch. Die bieten Bildungsangebote, die leisten Aufklärungsarbeit, die gehen in Schulen und raus auf die Straße und in Jugendzentren – gegen rechts. Die sind geschult und erfahren. Ich denke, es gibt keine nötigere Zeit als JETZT, um sich zu engagieren. Und wer selbst keine Zeit oder keine Kraft aktuell dafür hat, der kann spenden und somit die unterstützen, die es können.
Was wir alle jederzeit können: Laut werden! Unser Wort erheben, wenn wir schwierige Aussagen hören – egal ob in unserem Umfeld oder bei Fremden. Uns weiterbilden. Durch unabhängige Nachrichten, durch entsprechende Artikel oder Dokumentationen oder durch Gespräche. Und wer sich traut: Auch mal nachfragen. Wissen wir wirklich, ob in unserer Familie oder unter unseren Freundinnen und Freunden niemand mit dieser einen Partei sympathisiert? Haben wir wirklich immer genau hingehört oder auch mal was ignoriert aus Angst vor Konfrontation? Es kostet Mut und Energie aber diesen Aufwand müssen wir auf uns nehmen.
Nie wieder ist jetzt.
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